The importance of being earnest – Samstag, 30. Juni 2012
Eigentlich behaupte ich ja immer noch, Deutschland sei Europameister, weswegen ich mich mit der Halbfinalniederlage am Donnerstag nicht weiter auseinandersetzen muss. Es stimmt ja auch; die deutsche Damenmannschaft hat sich im Finale der U-17 Europameisterschaft im Elfmeterschießen gegen die Französinnen durchgesetzt und damit sind wir Europameister. Da aber der Rest des Landes dies nicht zur Kenntnis genommen zu haben scheint, werde ich mich wohl doch mit dem Thema auseinandersetzen müssen.
Also schön: Warum jetzt eigentlich der große Katzenjammer und die viele Kritik? Was kann man Jogi Löw denn bitte vorwerfen? Dass es leider nicht nur eine richtig gute Mannschaft in Europa gibt?
Höchstwahrscheinlich gibt es so einige Menschen, die genug über Fußball wissen, um fundierte Kritik an Löw üben zu können. Ich zähle mich nicht zu ihnen. Ich verstehe mehr von Psychologie als von Fußball, und ich glaube, ausnahmsweise mal ganz ernsthaft, dass hinter der allgemeinen, bzw. in den Medien verbreiteten schlechten Laune ein riesiger Mentalitätsfehler steckt, gepaart mit Unwissen.
Wie Jürgen Klinsmann dankenswerterweise bereits gesagt hat, gibt es beim Fußball keine Garantie, zu gewinnen. Wer das will, der soll sich kitschige Hollywood-Baseballdramen anschauen. Da gewinnt schon am Ende das Team, dessen Fan der Zuschauer aufgrund der Erzählperspektive ist, auch wenn es zwischendrin ein paar Mal bittere Niederlagen einstecken muss.
Vielleicht sind wenige Menschen so naiv, dass sie glauben, wir müssten aber doch gewinnen, weil das ja sonst kein Happy End ist, und auf ein Happy End haben wir ja gesetzlichen Anspruch. Was uns allerdings trotzdem fehlt, ist eine Fankultur, in der Niederlagen eingeplant sind.
Wir* sind sozusagen ein Schönwetterpublikum. Solange alles gut läuft, machen wir Party. Wir gröhlen „Steht auf, wenn ihr Deutsche seid“, obwohl wir vor dem Anpfiff die Nationalhymne nur unter größeren Fremdschämattacken mitgesummt haben. In der Halbzeitpause läuft beim Public Viewing „Country Roads“, die unvermeidbare Laola rollt durch die Menge, es fließt das Bier.
Und wenn wir zur Pause 2:0 zurückliegen?
Dann läuft auch „Country Roads“.
Wir sind ja nicht einmal musikalisch auf Niederlagen eingestellt!!!
Die Masse der deutschen Zuschauer wird nicht durch die Solidarität mit dem Team zusammengehalten, sondern durch die Hoffnung auf, vielleicht sogar die Erwartung des Sieges. Bleibt dieser aus, fällt die Menge auseinander; plötzlich rempeln Leute, die vor 90 Minuten noch ein Kollektiv waren einander an, motzen, wenn jemand im Weg steht, oder rasen lebensgefährlich mit dem Fahrrad durch die Masse. Im Angesicht der Niederlage ist plötzlich jeder wieder ein Einzelner, eine Insel.
Dass das nicht so sein muss; dass Niederlagen sogar die Solidarität und das Gemeinschaftsgefühl stärken können, habe ich in der letzten Saison des FC Liverpool sogar öfter erfahren dürfen/müssen, als mir wirklich lieb ist. Und dementsprechend war für mich der bisher bewegendste Moment dieser Europameisterschaft nicht unser Sieg gegen Portugal, Holland, Dänemark oder Griechenland – sondern das Ausscheiden Irlands, als die irischen Fans für ihr Team, das gegen Ende 4:0 zurücklag, geschlagene zehn Minuten lang Fields of Athenry sangen, mit Tränen in den Augen.
Wir scheinen für solche Anlässe noch nicht einmal ein Lied zu haben; abgesehen davon, dass ein Großteil der deutschen Fans das Public Viewing bei einem 4:0 Rückstand wahrscheinlich bereits vor Ende der 80. Minute verlassen hätte. Bei dieser Mentalität ist es kein Wunder, dass wir mit dem erneuten Scheitern nicht so recht umgehen können, nach Sündenböcken suchen und ausgewählte Exemplare der menschlichen Gattung mir bereits erklärten, das deutsche Team sei wohl überbewertet worden. Als jemand, der seit September 2010 sämtliche Qualifikationsspiele verfolgt hat, finde ich das einigermaßen lachhaft.
Und jetzt zu dem anderen Grund, der meiner Meinung nach für den schwachen Umgang mit der Niederlage verantwortlich ist: Unkenntnis. Bei Fußball kann zwar prinzipiell jeder mitreden, aber man sollte die Komplexität des Themas nicht unterschätzen. Ich erinnere mich gut, wie sich bei der WM 2010 alle vor Argentinien einen eingeschissen haben. Dann haben wir Argentinien 4:0 geschlagen, und wir glaubten, dass uns jetzt niemand mehr aufhalten kann, woraufhin uns Spanien im nächsten Spiel prompt das Gegenteil bewies.
Warum hatten wir solche Angst vor Argentinien? Unter anderem wegen Messi, dem Topspieler des Topvereins FC Barcelona. Und was passierte? Er war vollkommen unsichtbar. Und das scheint nicht die Ausnahme zu sein, sondern die Regel. Bei der Copa America 2011 etwa schaffte Gastgeber Argentinien es mit Hängen, Würgen und zwei Unentschieden gerade so durch die Gruppenphase, nur um dann gegen den späteren Sieger Uruguay im Elfmeterschießen auszuscheiden. Zauberei? Bestechung?
Möglich; viel wahrscheinlicher ist es aber, dass Messi mit dem System des FC Barcelona einfach erheblich besser zurechtkommt. Und nach diesem System spielt auch – katsching! – Welt- und Europameister Spanien. Der Topspieler Uruguays und bester Spieler der Copa America, Luis Suarez, hat letzte Saison mit dem FC Liverpool übrigens nur den achten Tabellenplatz erreicht.
Wenn wir also gegen Argentinien gewinnen, dann heißt das nicht, dass eine Niederlage gegen Italien immer und auf jeden Fall vermeidbar ist und wir deshalb einen Sündenbock suchen, maulen oder Köpfe abhacken müssen.
Was ich mir für die WM 2014 wünsche (neben einem Weltmeistertitel für das deutsche Team, das es verdient hätte, für sein erstklassiges Spiel auch einmal belohnt zu werden), ist also eine Fankultur, bzw. eine Öffentlichkeit, die sich über mehr definiert als über die Sehnsucht nach der großen Weltmeisterfete. Ich rede gar nicht von Patriotismus, nur von einem bisschen mehr an Ernsthaftigkeit – und vielleicht einigen neuen Liedern. Partyotismus allein reicht einfach nicht.
So, Moralpredigt beendet. 🙂
*Ich möchte klarstellen, dass ich hier nicht von den hartgesottenen Fans rede, die dem Team nach Polen, bzw. in die Ukraine nachgereist sind und es vor Ort unterstützt haben. Ich rede von der großen Teilen der deutschen Medienöffentlichkeit und dem Standardpublikum bei Public Viewing – Veranstaltungen und daheim vor dem Fernseher.