Theorie des Tages

Monat: Februar, 2014

Der Mörder ist immer der Nachbar – Freitag, 28. Februar 2014

Aus aktuellem Anlass habe ich beschlossen, meiner überaus musikalischen Nachbarschaft dieses Lied zu widmen:

Der Mörder ist immer der Nachbar

Die Sonne schielt grad übern Bergkamm

In einem Vierparteienhaus

Spielt munter schon auf seiner Bassdrum

Der Hardrock-begeisterte Klaus

Da schleicht sich im ersten Sonnenschein

Klammheimlich ein Schatten zur Tür herein

Klaus dreht sich herum und blickt in ein Gewehr

Mit dem letzten Knall fällt sein Kopf auf die Snare.

 

Der Mörder war wieder der Nachbar

Und er plant schon den nächsten Coup.

Der Mörder ist immer der Nachbar

Denn der hört den ganzen Tag,

Der hört den ganzen Tag,

Der hört den ganzen Tag zu.

 

In einem achtstöckigen Hochhaus

Schallt Klassikmusik übern Flur

Das macht sicher niemandem was aus

Denn schließlich ist das ja Kultur

Herr Meier trinkt Rotwein, hört zu und chillt

Im Fenster sieht er noch das Spiegelbild

Die Diva setzt zu einer Arie an

Doch er hört es nicht mehr, denn er scheidet von dann

 

Der Mörder…

 

Im schäbigsten Mietshaus von Gmunden

Hat Otto van Dijk sein Quartier

Dort übt er seit mehreren Stunden

Besessen auf seinem Klavier

Die Tonleitern rasen runter und rauf

Da dreht sich an der Türe ganz leise der Knauf

Aus dem Solo wird ungeahnt ein Duett

Und dann spritzt auch schon das Blut aufs Parkett

 

Der Mörder…

 

Von oben dröhnt es ohne Schonung

Tobi, Sebastian und Flo

Verwechseln mal wieder die Wohnung

Mit einem Tonstudio

Da zieht plötzlich jemand den Stecker raus

Tobi und Flo nehmen schnell noch Reißaus

Doch Sebastian stolpert im Kabelsalat

Man fand ihn erdrosselt mit einem Stück Draht

 

Der Mörder war wieder der Nachbar…

 

Ich bin mir sicher, dieses Haus wird bald schon eine Zugabe fordern, bzw. Anlass zu einer geben.

 

Erkenntnisinteressenten – Donnerstag, 27. Februar 2014

Rhetorische Finten in Online-Diskussionen, über die ich mich regelmäßig aufregen muss. Diese Woche: „Ich finde es ja sehr interessant, dass….“

Typische Post: „Ich finde es ja sehr interessant, dass schon wieder alle so schnell dabei sind, dem Autor des Artikels [in welchem behauptet wird, dass Hypochondrie eine Form des Narzissmus sei] Unwissen zu unterstellen.“ (Gefunden in einem Hypochonderforum)

Eine elegante Art, den Mitdiskutierenden nicht ganz redliches Erkenntnisinteresse zu unterstellen, und dabei selbst lediglich wie ein interessierter Beobachter zu wirken. Die Autorin dieser Post ist zwar selbst völlig frei von jeglicher Voreingenommenheit (sie hatte nuuur den Artikel ursprünglich verlinkt…), aber die negative „Voreingenommenheit“ der anderen ist so offensichtlich, dass sie selbst einer neutralen Zuschauerin wie ihr ins Auge springen muss. Wie jeder hingebungsvoller Anwender passiv-aggressiver Finten verkneift auch sie es sich, dem Forum mitzuteilen, was genau denn so interessant daran ist, bzw. welche heimliche Hypothese durch das Verhalten der anderen Forenteilnehmer bestätigt wird.

Da es sich um ein Selbsthilfeforum handelt, ist natürlich allen Beteiligten der Grundsatz vertraut, dass Ablehnung die Wahrheit des Gesagten beweist. Folglich verstehen auch alle, was ihre Gegnerin ihnen sagen will: Der Autor hat recht. Ihr seid Narzissten; und weil ihr das nicht wahrhaben wollt, müsst ihr ihn jetzt abwerten.

Das kratzt nun gleich doppelt an der Ehre: Einerseits wegen der Behauptung, man sei ein Narzisst, und andererseits wegen der Unterstellung, man würde seine Meinung darauf gründen, was dem eigenen Ego genehm ist. Darauf mit Wut zu reagieren setzt diesen Teufelskreis fort. Um zu beweisen, dass die Gegnerin Unrecht hat, sind die Diskussionsteilnehmer daher gezwungen, ihre Ablehnung entweder sehr zu mäßigen, oder gar klein beizugeben und auf dem Grunde ihrer Persönlichkeit nach narzisstischen Anteilen zu suchen und nicht eher aufzugeben, als bis sie welche gefunden haben, denn wer glaubt, dass er ein Narzisst sein könnte, kann – ein weiterer Grundsatz der Küchenpsychologie – unmöglich einer sein. So erzwingt ein kleiner, passiv-aggressiver Halbsatz Zustimmung.

Gegenwehr ist in diesem Fall ziemlich einfach. In einem Psychoforum kann man in der Regel davon ausgehen, dass der Gegner kein geschulter Troll, sondern lediglich ein neurotisches Wesen mit einem Kommunikationsproblem ist. Deswegen einfach mal nachfragen:

Was genau ist denn jetzt eigentlich so interessant?

Was glaubst du denn, was hinter der kollektiven Ablehnung steckt?

Bekanntermaßen fürchten Passiv-Aggressive nichts so sehr, wie die Konfrontation. Sonst hätten sie diesen Diskussionsstil ja nicht nötig. Daher muss die Nachfrage gar nicht besonders brutal formuliert sein. Sie muss nur zu erkennen geben, dass man auf die passiv-aggressive Masche nicht reinfällt und dem anderen in dieser Hinsicht auch nichts durchgehen lässt. Selbst, wenn er sich aus der Sache irgendwie rauswindet, hat man doch immer die Gewissheit, dass er jetzt mit erheblichen Unzulänglichkeitsgefühlen zu kämpfen hat. Und das ist für die eigene seelische Gesundheit ein nicht unerheblicher Gewinn. Die EG-Gesundheitsminister sagen: Subtile Aggression, die man dem Absender nicht sofort wieder zurückgibt, kann zu Impotenz führen!*

*Für alle Anhänger zweifelhafter Psychogurus, welche sämtliche Krankheiten auf psychisches Versagen zurückführen: Das war ein Witz!

Reisewarnung – Mittwoch, 26. Februar 2014

Ich habe ja vor einiger Zeit über den Begriff der tumblr-Diät philosophiert. Dass man sich problemlos nur von tumblr ernähren könnte, weil man dort sowieso alle wichtigen Nachrichten erhält. Das gilt, wie ich gerade sehe, doch nur eingeschränkt: Ausgenommen sind davon nämlich selbstverständlich diejenigen Nachrichten, die einem nahelegen, sich dringend von tumblr fernzuhalten. An einem Tag, an dem Aufnahmen von der Festnahme Justin Biebers öffentlich gemacht werden und zusätzlich Real Madrid 6:1 bei Schalke gewinnt, ist Alarmstufe Rot durchaus gerechtfertigt.

Tipps zur Selbstquälerei – Dienstag, 25. Februar 2014

Lerntipps sollten mit einer Warnung versehen werden:

Achtung! Dies zu lesen, könnte Ihre Fähigkeit beeinträchtigen, darauf zu vertrauen, dass man eine Prüfung auch bestehen kann, wenn man nicht seinen Ernährungsstil umstellt, zu ungewohnten Zeiten schlafen geht und täglich Sport treibt! Bitte mit äußerster Vorsicht behandeln!

Was hat mich zu dieser Erkenntnis gebracht? Nun, meine fürsorglichen Verwandten waren der Meinung, dass ich ein bisschen Hilfe dabei brauchen könnte, wieder ins Lernen hineinzufinden. Deswegen schickten sie mir einen Artikel, der sich mit den häufigsten Lernfehlern befasst. Seither zweifle ich an meiner Realitätswahrnehmung, denn wenn ich den Artikel so recht betrachte, dann kann es eigentlich nicht sein, dass ich meine letzten sieben Prüfungen bestanden habe. Habe ich aber. Unter anderem unter heftigem Einsatz der genannten Fehler, wie etwa: Am Tag vor der Prüfung noch lernen.

Um mich überhaupt in die Lage zu versetzen, die genannten Tipps zu befolgen, müsste ich mir erst mal drei Wochen, die ich nicht habe, freinehmen, um solche Dinge zu tun wie meinen nicht vorhandenen Schreibtisch aufzuräumen, Müsli zu kaufen und mir eine Kuh zuzulegen, damit jeden Tag frische Milch im Haus ist. Außerdem müsste ich dann natürlich noch lernen, Studentenfutter zu mögen und von Trockenfrüchten keine Bauchkrämpfe zu kriegen. Das scheint mir ein erheblicher Aufwand dafür, dass ich dann doch nur noch eine Woche hätte, um auf zwei Prüfungen zu lernen, vor allem, wenn mir nebenher der Bauch grummelt.

Ehrlich gesagt kann ich nicht umhin, es verdächtig zu finden, dass sämtliche Lerntipps immer darauf hinauslaufen, das Lernen so unerquicklich wie möglich zu gestalten.

  • Pünktlich aufstehen
  • Müsli essen
  • Sämtliche Ablenkungen sind verboten.
  • Nur Wasser trinken
  • In den Pausen Studentenfutter und Trockenfrüchte mampfen

Ich schaffe mit derart hohen Opfern sicher genug kognitive Dissonanz, um zu glauben, dass ich gut vorbereitet bin, aber verstehen werde ich Chemie davon kaum.

 

Dies ist ihr automatischer Weckruf – Montag, 24. Februar 2014

Der Tag hat schlecht angefangen, oder wie sonst soll man es nennen, wenn man davon geweckt wird, dass der Klavierspieler von nebenan und der Schlagzeuger von oben eine Jam-Session veranstalten? Dass sich die verschiedenen Lärmproduzenten in meinem Haus nun auch noch näher kommen, ist das letzte, was ich gebrauchen kann. Vielleicht arbeitet natürlich auch nur die Black-Metal-Band heftig an einer Reunion. Alles sehr unerfreuliche Ereignisse.

 

Fußballgeschädigt – Sonntag, 23. Februar 2014

Mein Schlafbedürfnis ist derzeit höher, als gut für mich ist. Wenn man es zu einem Fußballspiel, das um halb drei Uhr nachmittags stattfinden soll, nicht rechtzeitig ins Pub schafft, weil man verschlafen hat, dann sollte man anfangen, sich Sorgen zu machen. Andererseits könnte mein erhöhtes Schlafbedürfnis einfach darauf zurückzuführen sein, dass meine Träume so unglaublich anstrengend sind.

Ein Beispiel? Ich träume, dass Liverpool gegen Man City spielt. Ein unglaublich wichtiges Spiel, wir müssen gewinnen. Wir schießen ein Tor. Es scheint alles gut zu werden. Dann hängt sich mein Stream auf, ich warte und bange, und als ich irgendwann einen Radiosender finde, der das Spiel überträgt, höre ich, dass gerade die 93ste Minute läuft und City das Siegtor geschossen haben – wegen einer zweifelhaften Entscheidung des Linienrichters. Ich wache auf mit einem Gefühl entsetzlicher Beklemmung, bis mir klar wird, dass das Spiel ja noch gar nicht stattgefunden hat. Die Betonung liegt auf noch.

Die EG-Gesundheitsminister warnen: Fußball schadet der Gesundheit. Oder wie es auf RAWK heute jemand ausgedrückt hat: Ich bin es leid, der unterhaltsamste Verein in der ganzen Liga zu sein!

 

Statistik als Inneneinrichtung. Warum ich „In-Den-Raum-Steller“ nicht mag – Samstag, 22. Februar 2014

Rhetorische Finten in Online-Diskussionen, über die ich mich regelmäßig aufregen muss. Diese Woche: „Ich stell das jetzt einfach mal so in den Raum.“

Typische Post: „Statistisch gesehen gibt es ja in lesbischen Beziehungen mehr Gewalt als in allen anderen. Ich will damit gar nichts Spezielles sagen, ich stell das jetzt einfach mal so in den Raum.“

Nee, is klar! Natürlich meinst du damit überhaupt nichts, und du glaubst auch keineswegs, dass es irgendwas mit dem Thema zu tun hat, über das wir gerade diskutieren! Spammst du Diskussionen immer mit irrelevanten Aussagen zu, oder nur dann, wenn du eine Meinung äußern willst, aber nicht den Mumm hast, dafür geradezustehen?

Ziel dieser Post ist ganz klar, die Meinungen der anderen Diskussionsteilnehmer zu beeinflussen, ohne die eigene Ansicht verteidigen zu müssen. Selbstverständlich zieht der Ersteller dieser Post gewisse Schlussfolgerungen aus seiner Statistik, aber die will er nicht offenlegen. Die anderen sollen selbst darauf kommen, damit er dann immer sagen kann: „Aber ICH habe das nie behauptet!“ Würde man ihn – beispielsweise als lesbische Frau – für seine Andeutungen direkt angreifen, könnte er ohne jede Schwierigkeit auf eine der folgenden Floskeln ausweichen:

  • „Das hab ich doch gar nicht gesagt.“
  • „Ich hab bloß die Fakten genannt, aber Feministinnen haben ja gerne mal ein Problem mit der Wahrheit.“
  • „Das steht nirgendwo in meiner Post. Vielleicht liest du es da ja nur hinein, weil du irgendwo tief drinnen weißt, dass es die Wahrheit ist.“
  • „Getroffene Hunde bellen.“

Dieses Muster kann man problemlos auf andere Themen und gesellschaftliche Gruppen übertragen. Es ist immer das gleiche.

Schritt 1: Nenne eine wissenschaftliche Erkenntnis, die geeignet ist, dein liebstes Vorurteil zu untermauern, bzw. deine Abneigung gegen eine bestimmte Gruppe zu rationalisieren.

Schritt 2: Erkläre, dass du als anständiger Mensch daraus überhaupt keine Schlussfolgerungen ziehst, sondern dieses Faktum lediglich aus Liebe zur Wissenschaft gepostet hast.

Schritt 3: Wenn man dich mit den heimlichen Schlussfolgerungen, die du natürlich sehr wohl hegst, konfrontiert, dann wasche deine Hände in Unschuld.

Schritt 4: Suche öffentlich eine Erklärung dafür, warum dein Gegner dir etwas unterstellt, was du doch nie behauptet hast. Idealerweise stellt diese Erklärung den Gegner als dumm, irrational oder hysterisch hin. Ihm Böswilligkeit zu unterstellen, kann als erster Schritt zu drastisch sein und deine Glaubwürdigkeit senken. Ansonsten gilt aber: Je ehrrühriger, desto besser. Wichtig ist, dass du diese Erklärung entweder im väterlich-besorgten Tonfall abgibst, oder dich mit gespielter Verzweiflung fragst, warum manche Menschen einfach nicht lesen können.

Schritt 5: Reagiert dein Gegner darauf mit Zorn, dann hast du gewonnen. Dadurch bestätigt er nämlich deine Behauptung, er sei hysterisch/irrational/unfähig, die Wahrheit zu ertragen. Aber auch, wenn er sich sarkastisch einlässt, dir seine Verachtung kundtut oder dir die Fähigkeit, eine ernsthafte Diskussion zu führen, abspricht, musst du dir keine Sorgen machen. Da die anderen Leser wissen, wie beleidigend deine Bemerkung war, können sie gar nicht anders, als die Reaktion deines Gegners als Wut zu interpretieren. (Ausnahme: Du hast jemanden angegriffen, der in der Forenhierarchie ziemlich hoch steht.)

Im Grunde ermöglicht diese Masche einem, die Meinung anderer Forenleser auf noch viel drastischere Weise zu beeinflussen: Nicht nur sollen sie zu den Schlussfolgerungen kommen, die der Ersteller der Post nicht öffentlich zu äußern wagt; bösartige Andeutungen, deren Bösartigkeit nicht bewiesen werden kann, provozieren auch hilflos-wütende Reaktionen von der angegriffenen Gruppe. Dadurch bestätigt sie zumindest scheinbar das Bild, für das man mit der Statistik/Behauptung in der ursprünglichen Post den Grundstein gelegt hat. Das ist möglicherweise sogar wirksamer als eine bösartige Interpretation der Statistik für sich.

Wenn ich ein Mod wäre, würde ich mal die Probe aufs Exempel machen. Auf jede Post, die mit den Worten „ich stell das einfach nur mal so in den Raum“ endet, würde ich antworten: „Wenn du uns damit gar nichts sagen willst und auch keinen Bezug zur aktuellen Diskussion siehst, dann kann ich das ja als offtopic löschen. Einverstanden?“

Würden ja sehen, wie viele von den In-Den-Raum-Stellern wirklich völlig absichtslos die Statistik des Tages präsentieren wollten, und wie viele plötzlich aufschreien, dass das ein ungeheuerlicher und durch nichts zu rechtfertigender Eingriff in die Meinungsfreiheit sei. Wieso Meinungfreiheit? Ich dachte, ihr meint überhaupt nix…

 

Geschwisterliebe – Freitag, 21. Februar 2014

SPOILER: Dexter (ab Staffel 6) und Frozen.

Meine Eltern waren immer gegen Disneyfilme. Die Gründe dafür waren vermutlich vielfältig, aber ein Aspekt war das Bild von Frauen und Liebe, das in ihnen vermittelt wurde. Insofern sah ich sie immer nur bei meiner konservativen Tagesmutter – eine ironische Volte der Frauenemanzipation, welche die liberalen Mütter daran hindert, ihre Kinder im fundamentalistischen Homeschooling-Stil von den falschen weltanschaulichen Einflüssen fernzuhalten.

Vor einigen Wochen habe ich nun einen Disneyfilm gesehen, der die Meinung meiner Eltern möglicherweise geändert hätte: Frozen. Ein Disneyfilm, in dem die Erlösung nicht darin besteht, von einem Prinzen (oder sogar einem Eiswürfelhändler) geküsst zu werden, sondern darin, die Freundschaft mit der eigenen Schwester zu retten. Bemerkenswert. Und, wie man sagen muss, fortschrittlicher als so manches, was FSK 18 hat.

Dass Deborah Dexters Stiefschwester ist, reicht als Begründung, trotz seiner Taten zu ihm zu halten, nicht aus. Sie muss sich erst noch in ihn verlieben. Intensive emotionale Beziehungen jenseits der erotischen Liebe sind wohl einfach nicht so plakativ. Schade eigentlich.

Zyniklopädie der Lebenshilfe: Zur Diskreditierung der Kritik – Donnerstag, 20. Februar 2014

Ich möchte gleich zu Beginn einräumen, dass ich ein gewisses morbides Interesse bezüglich der Abgründe unserer Lebenshilfekultur hege. Und deswegen suche ich bei Google regelmäßig die Namen von allerlei Psycho-Gurus, esoterischen Lebensberatern und natürlich jeder Menge  Menschen, die zwar keineswegs zu selbigen zu rechnen sind, aber trotzdem ganz erstaunlich viel mit ihnen gemeinsam haben. Wenn ich dann irgendwann wieder ein dringendes Bedürfnis nach gesundem Menschenverstand verspüre, füge ich meiner Suchanfrage das Wörtchen „Kritik“ hinzu. Und dabei stoße ich auf ein hochinteressantes Phänomen:

Die überwältigende Anzahl der Ergebnisse stammt nicht von Kritikern der genannten Gurus, sondern von ihnen, beziehungsweise den von ihnen „ausgebildeten“ Beratern/“Therapeuten“ selbst.

Der Grund dafür ist leider nicht, dass sie eine übermäßige Tendenz zur Selbstkritik hätten. Nein, es geht selbstverständlich um ihr Klientel. Das soll mit ihrer Hilfe nämlich:

  • Nie wieder empfindlich auf Kritik reagieren*
  • Die Wunden der Kindheit** heilen
  • Lernen, die „Kritiksucht“ anderer darauf zurückzuführen, dass sie noch nicht im [bitte Fachbegriff für den utopischen Erleuchtungszustand der jeweiligen Sekte einfügen] angekommen sind und über diesen Umstand möglichst authentische Traurigkeit entwickeln.

Kritische Auseinandersetzungen stehen bei Psycho-Gurus und ihren Anhängern nicht sonderlich hoch im Kurs. In ihrer Welt ist die einzige erlaubte Art der Ablehnung das schweigende Wegbleiben. Wer das, was ihm nicht gefällt, nicht still ignoriert, sondern öffentlich anspricht, karikiert oder womöglich sogar darüber diskutieren will, der begeht einen aggressiven Akt. Und Aggression, das ist ganz klar, ist nicht normal.***  Eine gute Gelegenheit, um dem „Aggressor“ vorzuschlagen, doch mal „in sich hineinzuschauen“, was bei ihm selbst nicht stimmt.

Die Argumentation dahinter könnte man wohlwollend als „schlüssig“ bezeichnen. Laut der meisten Psychokulte hängt unser Glück einzig und allein davon ab, wie wir beschließen, die Welt wahrzunehmen. Wer also etwas zu kritisieren findet, der muss das selber so gewollt haben. Vor unserem inneren Auge entsteht bei diesem Satz das Bild eines Nörglers, Besserwissers, Mathelehrers  – und schon hat der Guru gewonnen. Wer gegen solche Leute ist, der kann nicht ganz schlecht sein. Toll, dass der auf sowas gekommen ist und sich dann auch noch traut, das zu sagen!  Was er von Engeln und Liebe quatscht, das verstehe ich zwar nicht so recht, aber das ist vielleicht auch ganz gut so, denn schließlich soll man ja nicht blind irgendeinem Guru hinterherlaufen! Boah, die Leute auf Amazon, die das Buch scheiße finden, die halten mich wohl alle für naiv! Die sollen doch erst mal selber ihre Komplexe aufarbeiten und sich fragen, warum das Buch sie so wütend macht! Das sind wahrscheinlich genau die Leute, die der Herr x /die Frau y gemeint hat! Das zeigt nur mal wieder, wie recht er/sie hat!

Der solcherart Erleuchtete wird einen empörten bis selbstgerechten Kommentar unter die missliebige Rezension klatschen; im Geiste der Liebe, der Meinungsfreiheit und des Rechtes eines jeden auf seine persönliche Wahrheit. Dass er sich damit ad absurdum führt, stört ihn nicht, denn er hat gelernt, Widersprüche auszuhalten****.

Vielleicht haben deswegen so wenige Menschen noch Lust, Kritik an derartigen Psychokulten zu üben. Mit Kommentaren überschwemmt zu werden, die so viel Unsinn enthalten, dass man gar nicht weiß, wo man anfangen soll, wünscht sich schließlich niemand.

* Gemeint ist damit, dass man sich a) vom „Meister“ alles gefallen lässt und b) für jede andere Art Kritik lächelnd bedankt, ohne sie im Mindesten ernst zu nehmen.

** „Wunden der Kindheit“: Wenn deine Eltern dich dafür kritisiert haben, dass Du mit acht darüber geweint hast, dass Du deiner Schwester einen Löffel Pudding abgeben musstest, dann hat das ganz massiv deine Fähigkeit zur Selbstliebe beeinträchtigt und Du hast ein Recht auf jahrelange narzisstische Selbstbespiegelung. Wenn Du geschlagen und missbraucht wurdest, dann hast Du dir das unbewusst selbst ausgesucht und solltest dringend etwas gegen deine Negativität tun, bevor Du dir noch dein ganzes Leben versaust.

***Gemeint ist hier nicht der statistische Normbegriff, sondern normal im Sinne von: gesund, adäquat, der Situation angemessen. Wenn statistisch gesehen viele Menschen kritisch (=wütend) reagieren, wenn sie mit Schwachsinn konfrontiert werden, dann ist das nur der Beweis dafür, wie „krank“ unsere Gesellschaft ist.

**** Widersprüche aushalten: Doppelmoral als spirituelle Errungenschaft.

Müßiggangberater – Mittwoch, 19. Februar 2014

Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich das Gefühl, dass ich tatsächlich von größerem Nutzen für meine Mutter bin. Ich habe ihr nämlich eine Erfahrung voraus, die sie erst noch machen muss: Müßiggang.

Während sie bald in Rente geht und dann zum ersten Mal in ihrem Leben mit dem Zustand der steten Beschäftigungslosigkeit konfrontiert wird, war ich über so lange Zeit hinweg unglücklicher Student, dass ich jede einzelne Klippe des Müßiggangs kenne, weil ich schon mindestens einmal an ihr Schiffbruch erlitten habe. Zur Förderung des allgemeinen Wohlbefindens hier meine wichtigsten Erkenntnisse:

  • Ein Arbeitsplan ist unbedingt vonnöten. Es geht gar nicht darum, jede einzelne Minute sinnvoll zu nutzen, im Gegenteil. Man will so viel Freizeit wie möglich ohne schlechtes Gewissen und vage Unzufriedenheit verbringen. Zu diesem Zweck braucht man aber eine Tätigkeit pro Tag, die einem das Gefühl gibt, seine Aufgabe für heute erledigt zu haben. Idealerweise handelt es sich dabei um immer dieselbe Beschäftigung, die irgendeine Art Mehrwert hat (Bildung, Gesundheit, gesellschaftliche Verbesserungen usw.) und einem dabei über längere Zeit hinweg Fortschritte ermöglicht. Hilfreich ist es auch, wenn sie einen zwingt, sich zu duschen, anzuziehen und regelmäßig unter Leute zu kommen.
  • Man braucht immer ein produktives Hobby und mehrere angenehme Zerstreuungen. Wer will, kann auf das produktive Hobby natürlich auch verzichten; niemals aber auf die Zerstreuungen. Zur großen Überraschung aller verhinderter Künstler ist es nämlich schwer bis unmöglich, tatsächlich in der gesamten Wachzeit (soweit sie nicht eh mit Essen ausgefüllt ist) kreativ tätig zu sein.
  • Habe immer ein Buch-das-du-gerade-liest. Bist Du im letzten Drittel des Buches angelangt, überleg dir, was Du als nächstes lesen willst. Verlass dich nie-, nie-, niemals auf das Internet als Lektürequelle. (Wer sowieso nie liest, ist davon selbstverständlich ausgenommen, aber der wird ja auch nicht über mein Blog stolpern.)
  • Achtung: Zu viel surfen kann wunderlich machen. Wer schnell von einer Seite zur nächsten springt, läuft Gefahr, das kritische Lesen zu verlernen. Entweder er verzichtet darauf, die Quelle des Gelesenen zu hinterfragen und platzt dann beim Abendessen mit Freunden mit irgendeiner radikalen Meinung heraus, die er auf einer Scientology-Seite aufgeschnappt hat; oder aber er stellt alles unter Vorbehalt und sich auf den Standpunkt, wirklich wissen könne man ja eh nichts, also sei auch jede Diskussion oder Beschäftigung mit der Realität sinnlos. (Das klingt jetzt blöd und spießig und kulturpessimistisch, aber wer schon mal länger im Reallife mit einem SPON-Junkie diskutieren musste, wird es mir nachsehen.)
  • Wenn Du dich gerade nicht im Müßiggang befindest und am liebsten vor Stress alles in die Ecke pfeffern möchtest, solltest Du eine Liste mit Dingen führen, die Du jetzt lieber tun würdest als zu arbeiten. Sobald man nämlich Zeit hat, weiß man gar nicht mehr so recht, was man eigentlich damit wollte.

Hilfe! Bin ich jetzt doch noch Freizeitberater geworden?