Bei jedem wichtigen Fußballspiel bin ich versucht, meine halbe Twitter-Timeline zu entfolgen. Nein, liebe Fußballhasser! Nicht, weil alle über Fußball reden! Weil ihr über Fußball redet!
Natürlich redet ihr nicht darüber, ob Deutschland Weltmeister wird oder wie gut Argentinien ohne Messi wäre. Ihr redet darüber, dass Krieg ist. Dass Gesetze verabschiedet werden. Spionage bekannt wird. Und dass das alles viel, viel wichtiger ist als Fußball. Und wisst ihr was? Ihr habt recht! Und deshalb überrascht es mich, wie viel Zeit und Energie ihr aufzuwenden bereit seid, um euch darüber aufzuregen, dass zur Zeit eine Fußballweltmeisterschaft stattfindet.
Wenn ich euch richtig verstanden habe, dann findet ihr, dass der fußballverrückte Teil der Menschheit seine Aufmerksamkeit auf die falschen Dinge richtet. Das Merkwürdige ist aber doch, dass ihr, die bekennenden Fußballhasser, die ihr euch ausschließlich mit Krieg, Frieden und Netzpolitik beschäftigt, immer ganz genau wisst, wann ein Spiel stattfindet und welche Hashtags ihr blocken müsst, um ja nichts davon mitzubekommen – und euch dann noch die Zeit nehmt, das dem Rest eurer Timeline kundzutun. Manchmal denke ich, die Spiele würden euch vielleicht weniger beschäftigen, wenn ihr sie einfach anschaut. Aber das ist nur ein Vorschlag. Wir können auch den anderen Weg gehen, und uns einmal anschauen, warum ihr euch eigentlich so merkwürdig verhaltet.
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Eure eigene Narration ist so selbstdienlich wie simpel. Ihr seid die sensibleren, bewussteren Menschen, und deshalb versetzt es euch so in Rage, dass eure Umgebung sich mit Trivialitäten wie Fußball befasst, während anderswo Bomben fallen oder kriminelle Gesetze verabschiedet werden. Ich hingegen erlaube mir, diese Narration einmal umzudrehen. Ihr hasst Fußball nicht, weil ihr sensibler seid. Ihr seid sensibler, weil ihr Fußball hasst.
Ihr als Fußballhasser könnt es nicht wissen, aber ihr verhaltet euch so wie Fans, deren Team gerade eine brutale Niederlage hat einstecken müssen. Ihr befindet euch in einer Art Trauerstimmung, und die macht euch empfindlich und reizbar. Fröhlichkeit interpretiert ihr als Aggression; der Gegensatz von Freude und Leid erscheint euch wie ein unerträgliches Rätsel, das gelöst werden muss, wenn das Leben noch einen Sinn machen soll. Ihr seid ein kleines bisschen die Mutter, die ein Kind verloren hat und nicht verstehen kann, wie andere Menschen lachen können.
Nur, dass ihr kein Kind verloren habt. Euer Kind heißt Gaza, Syrien, NSA und Deutscher Bundestag, aber es könnte auch beliebige andere Namen haben, solange es sich als Instrument eurer seelischen Selbstüberhöhung anbietet. Das Ironische daran ist natürlich Folgendes: Ihr glaubt zwar, durch eure zwanghafte Gegenüberstellung von Fußball und Weltpolitik grenzt ihr euch vom WM-Wahn ab – in Wirklichkeit ist sie aber eure Art, daran teilzuhaben. Die Art und Weise, wie ihr seufzt Wenn man nur die Tore gegen den Frieden eintauschen könnte…. (Tore? Woher wisst ihr Fußballhasser eigentlich schon wieder so genau, wie viele gefallen sind?) ist nicht weniger sentimental als die Gefühle, die der Fan seiner Mannschaft entgegenbringt, und einen größeren Einfluss auf die Situation im Nahen Osten hat sie auch nicht. Genau in dieser maskierten Teilnahme verrät sich nun aber der Grund für euren Hass: Ihr fühlt euch ausgeschlossen.
Ohne, dass es euch klar ist, seid ihr in einen ausgesprochen trivialen Kampf verwickelt, der durchaus mit Fußballrivalitäten zu vergleichen ist. Eure Gegner sind diejenigen, die sich vom WM-Fieber mitreißen lassen. Eure Hoffnung ist, dass die Geschichte euren Standpunkt, nämlich das Desinteresse an Fußball, belohnt, etwa durch eine frühe Niederlage der deutschen Mannschaft. Passiert aber das Gegenteil, dann leidet ihr. Und zwar leidet ihr weniger unter den Hupen, den Tröten und den Schlagzeilen, als unter der Tatsache, dass das ganze Land über etwas aus dem Häuschen ist, was ihr nicht nachempfinden könnt. Ihr spürt, dass euch etwas entgeht, etwas vorenthalten bleibt, und das gibt euch das Gefühl, auf der Verliererseite zu stehen. Und dann setzt das Trauerverhalten ein. Ihr werdet übersensibel gegen Fröhlichkeit, identifiziert euch mit dem Elend der Welt und schießt giftige, moralinsaure Pfeile in Richtung einer ausgelassenen Masse ab, die mit ihrer Ausgelassenheit im Grunde niemandem etwas Böses will – und euch am wenigsten, weil sie euch gar nicht zur Kenntnis nimmt. Ihr stellt eine mystische Verbindung zwischen der Fröhlichkeit der Massen und dem Elend der Welt her – nicht, weil die WM schuld am Krieg wäre, sondern weil sie schuld an eurem persönlichen Elend ist. Das bleibt also letztlich übrig von eurer scheinbar unantastbaren moralischen Überlegenheit – persönliche Gekränktheit darüber, dass die Welt von etwas begeistert ist, was ihr nicht versteht.
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Ihr glaubt mir nicht? Ihr haltet immer noch euch für die besseren Menschen und euren Fußballhass für die Rettung der Menschheit? Na gut, dann gehen wir es nochmal der Reihe nach durch.
Tweet: „Während #BRAGER hat der Deutsche Bundestag übrigens folgende Gesetze verabschiedet: ….“
Aha. Und was, glaubt ihr, wäre passiert, wenn nicht nebenher Fußball gelaufen wäre? Hätten dann erzürnte Bürger das Parlament gestürmt und die Verabschiedung des betreffenden Gesetzes verhindert? Wenn ihr wirklich glaubt, es bräuchte Fußball, um die Deutschen von etwaigen revolutionären Vorhaben abzuhalten, dann lebt ihr im Wolkenkuckucksheim.
Analoges gilt übrigens für die Weltpolitik. Wenn zufällig gerade Fußball läuft, während ein Krieg ausbricht, dann lauten die Schlagzeilen: Krieg im Nahen Osten und die Welt schaut weg! Läuft kein Fußball, dann lauten die Schlagzeilen: Krieg im Nahen Osten und die Welt schaut zu! Der Unterschied? Eine Frage der Wortwahl.
Für viele Menschen sind Fußballbegeisterung und politisches Bewusstsein kein Widerspruch. Fußball ist der beliebste Sport der Welt – das setzt voraus, dass sich die Gesamtheit der Fußballfans nicht nur aus einer Art Mensch zusammensetzt. Folglich werden sich unter selbigen auch politisch Engagierte (und zwar jeder Couleur) finden. Vielleicht sind einige von ihnen engagierter als ihr. Möglich sogar, dass manche intelligenter sind. Ihr Fußballhasser seid keine geistig-seelische Elite. Ihr mögt einfach bloß etwas nicht, was ein Großteil der Menschheit mag. Und damit könnt ihr offenbar nicht umgehen.