Chronologie eines Tages, an dem ich früh aufgestanden bin:
00:28 Ich mache das Licht aus, die Augen zu und komme mir vor wie ein Kind, das mit Krach und Schimpfen ins Bett geschickt worden ist. Ich denke daran, was mir morgen alles bevorsteht, und empfinde existentielle Angst: Die Angst davor, nicht schlafen zu können.
02:04 Verwirrt schrecke ich aus dem Schlaf hoch. Ich müsste schon lange unterwegs sein! Zum Glück wache ich richtig auf, bevor ich aufstehen und mich anziehen kann. Ich lege mich wieder hin und falle in einen unruhigen Schlaf.
05:40 Ich wache das nächste Mal auf und schaue hektisch auf die Uhr. Wenn ich von selbst aufwache, dann muss ich ja verschlafen haben. Stimmt aber nicht. Ich darf noch ein bisschen. Kopf -> Kissen.
07:00 Mein erster Wecker klingelt. Der, mit dem verhältnismäßig netten Klingelton. Ich fahre hoch, um schnell den Wecker mit dem miesen Klingelton schachmatt zu setzen, bevor der losgehen kann. Der Preis dafür ist natürlich, dass ich jetzt wachbleiben muss. Ich würde ja meinen Computer hochfahren, aber das würde ungefähr so lange dauern, bis ich aus dem Haus muss.
07:15 Mit knallroten Augen stehe ich vorm Badezimmerspiegel und frage mich, ob sie anfangen werden zu bluten, wenn ich Kajal auftrage. Immerhin hört mein Kopf langsam auf, wehzutun.
07:30 Ich bin fertig angezogen und frisiert, und die Vorstellung, dass ich einen gesamten Tag überstehen muss, ist nicht mehr völlig abwegig. Wenn ich von meinen Veranstaltungen heimkomme, kann ich ja schlafen. Das schaffe ich schon. Ein bisschen.
08:00 Ich sitze in der U-Bahn zwischen lauter Schulkindern, bei denen offenbar samt und sonders die erste Stunde ausfällt. Mein Körper kann sich nicht so recht entscheiden, ob er nochmal ein paar Minuten schlafen will, oder ob es weniger schmerzhaft ist, wachzubleiben.
09:15 Der Dozent redet schneller und schneller. Ich versuche, zwei Minuten durchzuhalten, ohne zu gähnen. Ich lenke mich damit ab, mir die Arme zu reiben, um den Schüttelfrost zu unterdrücken.
09:35 Ich vergesse manchmal, wo ich bin. Der Kopf sinkt mir immer weiter auf die Brust, und wenn da nicht dieses nagende Gefühl wäre, dass mir sagt, dass gerade in Schwierigkeiten bin, dann könnte ich einfach nachgeben. Es wäre so schön. Wie lange dauert die Stunde noch?
09:37 Ich fühle mich, als würde ich gegen ein Betäubungsmittel kämpfen: Verzweifelt. Ich bin (wieder einmal) dabei, mich öffentlich zu blamieren, aber ich kann nichts dagegen tun. Fieberhaft suche ich nach einem Ausweg: Kann ich mein Einschlafen als Ohnmacht tarnen? Oder schaffe ich es vielleicht, so wach zu werden, dass ich mich kurzzeitig auf die Toilette zurückziehen kann? Aber das habe ich schon einmal probiert: Auf der Toilette ist es zu kalt zum Schlafen, und außerdem werde ich vom Laufen wieder wach. Was ja schön wäre, wenn der Effekt für den Rest der Stunde anhalten würde. Aber auch, was das angeht, habe ich schon einschlägige Erfahrungen.
09:?? Es ist ein Wunder geschehen: Endlich ist die bleierne Müdigkeit verflogen, ich kann zuhören; sehe mich da sitzen, aufmerksam nicken… Und dann falle ich nach vorne und wache rechtzeitig auf, um nicht mit dem Gesicht voran auf dem Tisch aufzuschlagen. Aber schon sinken meine Augenlider wieder herab.
10:30 Diese Tortur ist vorbei. Fröstelnd stehe ich auf und denke mit leiser Panik, dass eigentlich für Menschen wie mich Notfallbetten bereitgestellt werden müssten. Was soll man denn tun, wenn man weit weg von zuhause so müde wird? Man kann sich doch nicht einfach irgendwo auf den Boden legen – auch, wenn ich diesem Gedanken gerade durchaus nicht abgeneigt bin.
12:00 Das Mittagshoch. Oder das Nachhausefahrhoch. Wie man´s nimmt. Jetzt, wo ich weiß, dass ich gleich schlafen könnte, fühle ich mich eigentlich ganz fit.
13:00 Ich komme zuhause an. Im Mittagslicht sieht alles ganz fremd aus. Ich versuche, meine Wahrnehmungen in meinen üblichen Tagesrhythmus einzuordnen und bin verwirrt. Ist es früh oder spät? Der Rest des Tages kommt mir noch so lang vor, aber ich bin schon so müde. Ich schalte meinen Rechner ein, um mich von den aufkommenden Depressionen und Verwirrtheitsgefühlen abzulenken.
14:30 Beim Versuch, mich auf den nächsten Tag vorzubereiten, schlafe ich auf meinem Bett ein. Mir ist immer noch kalt, aber ich werde nicht wach genug, um mir eine Decke zu nehmen. Völlig verkrampft liege ich da. Wenn ich wieder aufwache, wird mein linker Arm taub sein und ein Muskel an meinem Kiefergelenk heftig schmerzen.
16:00 Das Telefon klingelt mich aus dem Tiefschlaf. Ich springe auf, sehe verschwommen die Zeiger der Küchenuhr und parse: Acht Uhr. Ich habe verschlafen. Ich müsste längst in der U-Bahn sitzen. Panisch will ich losrennen, aber ein anderer Teil meines Gehirns hat mich bereits zum Telefon gesteuert: „Ja, was ist los, ich habe verschlafen!“ stammle ich. Es wäre übrigens auch nicht ungewöhnlich, wenn ich auf Englisch geantwortet oder gefragt hätte, warum wir allein auf der Station sind. Glücklicherweise ist am anderen Ende bloß meine Mutter. Sie stellt mir allerlei belanglose Fragen, die zu beantworten ich nicht die nötige Geistesgegenwart habe. Noch zwanzig Minuten nach meinem abrupten Erwachen fühle ich meinen Puls hämmern. Richtig klar bin ich immer noch nicht.
17:00 Mithilfe des Internets habe ich mich wieder so weit in der Realität verankert, dass ich die Vorstellung ertrage, einkaufen zu gehen.
19:00 Ich bin überrascht, dass die Läden noch so spät offen haben.
20:00 Langsam geht es mir wieder etwas besser. Ich freue mich, dass der Abend noch so jung ist.
21:28 Plötzlich habe ich schon wieder nur noch anderthalb Stunden, bis ich ins Bett müsste. Ich bekomme abrupt heftige Beklemmungen.
21:45 Mir fällt ein, was ich heute Nachmittag, als ich so müde war, alles nicht erledigt habe. Das muss ich jetzt schnell noch in eine Stunde pressen. Ich muss heute unbedingt früher ins Bett gehen, ich kann morgen nicht wieder so tot sein – aber ich muss auch diese Sachen noch erledigen.
23:58 Ich mache mich bettfertig. Bis ich schlafe, ist es doch wieder halb eins. Bestenfalls.