Schüchterne Menschen machen sich ja angeblich viel zu viele Gedanken darüber, was man über sie denken könnte. Sie vermeiden es, andere anzusprechen, weil sie Angst haben, dass diese sie für unmöglich halten werden, das kann man in jedem Buch nachlesen. Nun, ich als Mensch, der allgemein als schüchtern gilt, möchte diese Behauptung aus der Autorität der Betroffenen heraus korrigieren: Ich habe keine Angst, dass andere mich für unmöglich halten, ich habe Angst, tatsächlich unmöglich zu sein. Angst davor, dass jemand etwas über mich denken könnte, was nicht zutrifft, hätte ich nur dann, wenn es grob rufschädigend wäre. Insofern fürchte ich allenfalls, dass meine reale Unmöglichkeit bemerkt werden könnte.
Dieses aber nur als Einstieg, denn Bücher zum Thema Schüchternheit weisen noch erheblich größeren Korrekturbedarf auf. So wartete eines, das ich vor kurzem gelesen habe, mit allerlei Hinweisen dazu auf, wie man sich in verschiedenen sozialen Situationen, also Bewerbungsgesprächen, Flirts und im Umgang mit Autoritätspersonen verhalten sollte. Das war gleich aus drei Gründen lustig. Erstens hatte der Autor selbst kurz zuvor erwähnt, dass schüchterne Menschen sich oft überkorrekt verhalten und sich maßlos auf jede soziale Herausforderung vorbereiten. Vermutlich haben sie die themenspezifischen Ratgeber, aus denen er seine Tipps abgeschrieben hat, also längst in alphabetischer Reihenfolge im Regal stehen. Zweitens erwähnt der Autor mehrfach, wie empfindlich Schüchterne auf Kritik reagieren. Was meint er also, wie es dem betroffenen Leser gehen wird, wenn der allwissende (oder zumindest sicher in jeder relevanten Hinsicht überlegene) Onkel Psychiater meint, ihm die grundlegendsten Verhaltensregeln nahebringen zu müssen? Ich kann es ihm sagen: Es löst ein mittelschweren psychoseähnlichen Schub aus, währenddessen der Betroffene glaubt, er hätte immer nur geglaubt, die sozialen Regeln zu befolgen, in Wirklichkeit wisse er aber überhaupt nicht, wie man sich benimmt, verhalte sich völlig bizarr und die Gesellschaft toleriere ihn lediglich als bedauernswerte Randerscheinung. Und drittens beklagte der Autor an späterer Stelle, eine negative Eigenschaft schüchterner Menschen sei, dass sie zu sehr auf sich selbst und ihre eigene Performance achten, anstatt den anderen Menschen und dessen Bedürfnisse wahrzunehmen. Mit seinen Tipps leitet er sie dazu an, genau das weiterhin zu tun, bloß besser. Und wo wir gerade beim Thema Flirttipps wären: Der Autor ist ein Anhänger der Marktwerttheorie. Das ist natürlich sehr tröstlich für Schüchterne, die ja sowieso schon glauben, dass alle sie ständig bewerten und potentielle Partner die Menschenfreundlichkeit eines sadistischen Personalers mit Burnout besitzen. Es lässt sich auch wunderbar mit der auf dem Fuß folgenden Aufforderung vereinbaren, seine Mitmenschen als freundlich gesinnt wahrzunehmen und ihnen gegenüber positive Gefühle zu entwickeln.
Es ist nicht leicht für mich, diese Kritik zu schreiben, denn es heißt ja, jemandem auf die Füße zu treten, der mir eigentlich helfen wollte. Das ist etwas, was man als schüchterner Mensch tunlichst vermeiden möchte. Aber es sind, wie man auf amazon unschwer erkennen kann, schon zu viele positive Rezensionen auf diese Weise zustande gekommen. Irgendjemand muss sich ja mal trauen zu nörgeln.