Theorie des Tages

Kategorie: Generationenfrage

Hemmungslos in die Schlacht – Montag, 08. September 2014

Manchmal, wenn ich mich in der U-Bahn laut mit der Mitbegründerin meines Blogbüros unterhalte, genau merke, dass der Rest des Waggons zuhört und sich seinen Teil dazu denkt, verurteile ich mich für meine Neigung, ständig den Entertainer zu spielen. Mir zum Trost möchte ich hier eine Liste von Menschen erstellen, die weniger Hemmungen haben als ich und damit andere in wirklich unangenehme Situationen bringen:

  • Aufdringliche Nachbarn, die, wenn ihr Blick auf die Hugendubeltüte in deiner Hand fällt, zu erfahren verlangen, welches Buch du dir gekauft hast
  • Menschen in der Disco, die einem erklären, man solle doch mal lächeln
  • Dieselben aufdringlichen Nachbarn, die meinen, sich genau hinter einen stellen zu müssen, wenn man in der Waschküche seine Unterwäsche aus der Maschine holt
  • Ältliche Frauen mit einem Einkaufswagen voller Naturkind-Produkte, die einem hämisch erklären, wenn man Cola trinkt, würde man schön fett
  • Aufdringliche männliche Nachbarn um die fünfundsechzig, die meinen, bloß, weil man sie nicht grob abweist, wolle man mit ihnen eine ausgedehnte Unterhaltung führen

So betrachtet sollte ich also lieber noch ein paar Hemmungen abbauen. Aus Gründen der Selbstverteidigung.

Zyniklopädie der Reifeziele – Montag, 11. August 2014

Lernen, Ungerechtigkeiten zu ertragen: Bedeutet nicht etwa, ab sofort einfach alles zu schlucken. Bedeutet, ab sofort alles zu schlucken und sich dabei gut zu fühlen.

Die eigene Begrenztheit erkennen: Catch-22. Alternativ: In den Spiegel schauen, ohne eine Depression zu entwickeln.

Sich selbst annehmen: Sich selbst dafür auf die Schulter klopfen, dass man mal wieder die Studiengebühren zu spät überwiesen hat.

Entwicklungsschritte nachholen:
Ein bisschen weniger peinlich werden.

Wofür ich morgens aufstehe – Montag, 19. Mai 2014

Um meinen Lesern begreiflich zu machen, warum ich heute so unglaublich schlechter Laune bin, hier ein Abriss über die verschiedenen Hassgestalten, die ich ertragen musste, als ich mich heute morgen trotz Fieber und Erkältung in meine Vorlesung geschleppt habe.

1) Das Mädchen mit dem Smartphone

Gelangweilt kritzelt sie auf ihrem Block herum. Gelegentlich wirft sie einen leidenden Blick in Richtung des Vortragenden, der uns nur per Videoübertragung mit seiner Anwesenheit beehrt, und wickelt sich eine Locke um den Finger. Wenn auf dem Beamer eine neue Folie erscheint, hebt sie lethargisch ihr omnipräsentes Smartphone und das Lichtlein blitzt auf. Dann legt sie es wieder auf den Tisch und verschwindet erneut im Traumland. Ich frage mich, wie viele Dateien voller zusammenhangloser Bilder sie auf ihrem Handy hat und wie oft sie selbige anschaut.

2) Die Happy-Birthday-Clique

Mädchen natürlich; nur Mädchen sind auf diese penetrante Weise sozial. Ich weiß nicht, wann sie es geschafft haben, Geburtstage auszutauschen – ach so, Facebook. Okay. Seit acht Wochen Freunde auf Facebook, seit vier Wochen auch IRL, und vor fünf Tagen kam die Warnung, dass  Jessie bald Geburtstag hat. Also wird ein Bild vom letzten Clubabend ausgedruckt, auf eine Minitorte gepappt und mit Kerzen fixiert. Wenn Jessie dann mit fünf Minuten Verspätung endlich im Hörsaal einläuft, wird gesungen.

3) Der kleine Prinz

Kommt fünfzehn Minuten zu spät. Sagt zur gesamten letzten Reihe: „Tschuldigung, könnt ihr alle noch einen Platz reinrutschen?“, weil er keine Lust hat, sich in einem Hörsaal mit Videoübertragung, also ohne jegliche „Aufsicht“, in eine der vorderen Reihen zu setzen. Weitere fünfzehn Minuten später kommt sein Kumpel. „Tschuldigung, könnt ihr noch mal nen Platz rutschen?“ Versucht als nächstes, Kommilitonen zu bestechen, Wahlfach mit ihm zu tauschen, und dann die Leiterin des Wahlfachs, den Termin zu verlegen.

To be continued.

Ich habe das Grauen gesehen – Samstag, 17. Mai 2014

Nachdem ich in der vergangenen Woche drei mündliche Prüfungen hatte, habe ich mir gestern abend den Luxus gegönnt, mit zwei Freunden in ein Irish Pub zu gehen. Doch schon an der Tafel am Eingang standen die zwei Worte, die jeder friedliche Kneipenbesucher fürchtet wie der Teufel das Weihwasser: Heute Karaoke. Zur Bewältigung meiner Erlebnisse hier eine Kategorisierung des typischen Karaokepublikums:

1) Die Geburtstagsparty

Der große Tisch in der Nische ist für acht Uhr reserviert. Bald trudeln die ersten Gäste ein. Durchschnittliche junge Leute, die sich auf ihrem Lebensweg irgendwo zwischen High School Musical und Mid-twenty Blues befinden. Die Post-Abi-Euphorie ist in vollem Schwung, die meisten sind noch nicht mit ihrem ersten Lebensentwurf gescheitert und wissen nicht, was in den nächsten Jahren an Selbstzweifeln auf sie zukommen wird. Die Welt gehört ihnen.

Es wird Guiness bestellt, ein einzelnes Mädchen wagt sich an einen Cocktail. Kurz darauf folgt die erste Runde Stamperl. Jägermeister. Man trinkt sich Mut an. Nach der nächsten Runde Stamperl, diesmal Baileys, gehen die ersten auf die Bühne. Ein Junge und vier Mädchen, zum Händchenhalten. Langsam kommt die Party in Schwung. Ein weiteres Mal läuft die Kellnerin mit einem Tablett Stamperl Richtung Geburtstagstisch – Erdbeerlimes. Jetzt wagen sich auch Einzelne hervor, den angetrunkenen Mut hört man ihnen an. Bei Wonderwall wird sentimental mitgegröhlt.

Nach zwei Stunden ist der Tisch vergessen, alle stehen vor der Bühne. Die Quälität der Gesangsdarbietungen nimmt sukzessive ab, die Begeisterung hingegen zu. Dann, irgendwann gegen zwei, ist der Spuk vorbei. Man hat sich genug gefeiert. Dabei weiß jedes geübte Karaokeopfer, dass es jetzt erst richtig lustig wird. Der Grund sind:

2) Die betrunkenen Briten

Ganz vorn, ganz nah bei der Bühne, sitzen fünf mittelalte Männer und Frauen. Sie trinken, aber sie trinken unauffällig. Eine melancholische Vierzigjährige summt und nickt leise mit. Die Männer stieren vor sich hin. Dann, irgendwann, ist es halb zwei und jetzt brechen alle Dämme. Die Vierzigjährige torkelt zwischen den Tischen durch und schreit zu Killing Me Softly ihren Schmerz heraus, während ihr fünzigjähriger Freund von hinten seine Genitalien gegen sie presst. Der andere Fünfzigjährige setzt sich zu wildfremden Leuten an den Tisch und versucht, mit einem jungen Mann zu kuscheln. Eine graublonde Frau spielt dagegen DSDS und wir alle sind das Publikum.

3) Die lästernden Snobs

Sie wollten eigentlich gar nicht zum Karaokeabend. Sie wollten sich bloß in Ruhe auf ein Guiness treffen. Zuhören zu müssen, wie völlig betrunkene 21-Jährige Oasis gröhlen, zählt nicht zu ihren Lieblingsbeschäftigungen. Dementsprechend vernichtend fällt ihre Kritik der Darbietungen aus. Der Geburtstagstisch gegenüber ist für sie der blanke Schrecken. Genüßlich malen sie sich aus, wer von diesen unmöglichen Gestalten den Song singen wird, der ihre ganz persönliche Nemesis darstellt, sei es New York, New York, Angels oder Hey Jude. Dann ertönen die ersten Klänge von I will survive, und abrupt werden verzweifelte Rufe nach Schnaps laut. Nur schnell betrunken werden, bevor die traurige Versammlung anfängt, rhythmisch in die Hände zu klatschen und die gesamte weibliche Belegschaft voll Inbrunst Laaaa-lala-la-la…. dazu schreit. Sind die Snobs dann so betrunken, dass sie die Veranstaltung ohne intensive Fremdscham ertragen, fangen sie plötzlich selbst an zu singen, um zu beweisen, dass sie für ihren Snobismus allen Grund haben. Betrunken wie sie sind, sind sie sicher, dass ihnen das gelingt. Die hackedichten Briten bestätigen sie darin.

 

Unfähigkeitsbescheinigung – Montag, 10. März 2014

Dinge, die ich auch mit 26 immer noch nicht weiß:

  • Wie man es schafft, vier Wochen im Voraus zu wissen, ob man am 15.04. um 09:45 Uhr einen Zahnarzttermin wird wahrnehmen können
  • Wie man es schafft, jeden Tag zu spülen
  • Woher man weiß, dass in zwei Tagen das Bad schmutzig und heruntergekommen aussehen wird, wenn man nicht jetzt sofort putzt
  • Ab wann man das spätestens hätte wissen müssen.

Fortsetzung folgt.

Geschwisterliebe – Freitag, 21. Februar 2014

SPOILER: Dexter (ab Staffel 6) und Frozen.

Meine Eltern waren immer gegen Disneyfilme. Die Gründe dafür waren vermutlich vielfältig, aber ein Aspekt war das Bild von Frauen und Liebe, das in ihnen vermittelt wurde. Insofern sah ich sie immer nur bei meiner konservativen Tagesmutter – eine ironische Volte der Frauenemanzipation, welche die liberalen Mütter daran hindert, ihre Kinder im fundamentalistischen Homeschooling-Stil von den falschen weltanschaulichen Einflüssen fernzuhalten.

Vor einigen Wochen habe ich nun einen Disneyfilm gesehen, der die Meinung meiner Eltern möglicherweise geändert hätte: Frozen. Ein Disneyfilm, in dem die Erlösung nicht darin besteht, von einem Prinzen (oder sogar einem Eiswürfelhändler) geküsst zu werden, sondern darin, die Freundschaft mit der eigenen Schwester zu retten. Bemerkenswert. Und, wie man sagen muss, fortschrittlicher als so manches, was FSK 18 hat.

Dass Deborah Dexters Stiefschwester ist, reicht als Begründung, trotz seiner Taten zu ihm zu halten, nicht aus. Sie muss sich erst noch in ihn verlieben. Intensive emotionale Beziehungen jenseits der erotischen Liebe sind wohl einfach nicht so plakativ. Schade eigentlich.

Müßiggangberater – Mittwoch, 19. Februar 2014

Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich das Gefühl, dass ich tatsächlich von größerem Nutzen für meine Mutter bin. Ich habe ihr nämlich eine Erfahrung voraus, die sie erst noch machen muss: Müßiggang.

Während sie bald in Rente geht und dann zum ersten Mal in ihrem Leben mit dem Zustand der steten Beschäftigungslosigkeit konfrontiert wird, war ich über so lange Zeit hinweg unglücklicher Student, dass ich jede einzelne Klippe des Müßiggangs kenne, weil ich schon mindestens einmal an ihr Schiffbruch erlitten habe. Zur Förderung des allgemeinen Wohlbefindens hier meine wichtigsten Erkenntnisse:

  • Ein Arbeitsplan ist unbedingt vonnöten. Es geht gar nicht darum, jede einzelne Minute sinnvoll zu nutzen, im Gegenteil. Man will so viel Freizeit wie möglich ohne schlechtes Gewissen und vage Unzufriedenheit verbringen. Zu diesem Zweck braucht man aber eine Tätigkeit pro Tag, die einem das Gefühl gibt, seine Aufgabe für heute erledigt zu haben. Idealerweise handelt es sich dabei um immer dieselbe Beschäftigung, die irgendeine Art Mehrwert hat (Bildung, Gesundheit, gesellschaftliche Verbesserungen usw.) und einem dabei über längere Zeit hinweg Fortschritte ermöglicht. Hilfreich ist es auch, wenn sie einen zwingt, sich zu duschen, anzuziehen und regelmäßig unter Leute zu kommen.
  • Man braucht immer ein produktives Hobby und mehrere angenehme Zerstreuungen. Wer will, kann auf das produktive Hobby natürlich auch verzichten; niemals aber auf die Zerstreuungen. Zur großen Überraschung aller verhinderter Künstler ist es nämlich schwer bis unmöglich, tatsächlich in der gesamten Wachzeit (soweit sie nicht eh mit Essen ausgefüllt ist) kreativ tätig zu sein.
  • Habe immer ein Buch-das-du-gerade-liest. Bist Du im letzten Drittel des Buches angelangt, überleg dir, was Du als nächstes lesen willst. Verlass dich nie-, nie-, niemals auf das Internet als Lektürequelle. (Wer sowieso nie liest, ist davon selbstverständlich ausgenommen, aber der wird ja auch nicht über mein Blog stolpern.)
  • Achtung: Zu viel surfen kann wunderlich machen. Wer schnell von einer Seite zur nächsten springt, läuft Gefahr, das kritische Lesen zu verlernen. Entweder er verzichtet darauf, die Quelle des Gelesenen zu hinterfragen und platzt dann beim Abendessen mit Freunden mit irgendeiner radikalen Meinung heraus, die er auf einer Scientology-Seite aufgeschnappt hat; oder aber er stellt alles unter Vorbehalt und sich auf den Standpunkt, wirklich wissen könne man ja eh nichts, also sei auch jede Diskussion oder Beschäftigung mit der Realität sinnlos. (Das klingt jetzt blöd und spießig und kulturpessimistisch, aber wer schon mal länger im Reallife mit einem SPON-Junkie diskutieren musste, wird es mir nachsehen.)
  • Wenn Du dich gerade nicht im Müßiggang befindest und am liebsten vor Stress alles in die Ecke pfeffern möchtest, solltest Du eine Liste mit Dingen führen, die Du jetzt lieber tun würdest als zu arbeiten. Sobald man nämlich Zeit hat, weiß man gar nicht mehr so recht, was man eigentlich damit wollte.

Hilfe! Bin ich jetzt doch noch Freizeitberater geworden?

 

Mieses Propagandastück – Sonntag, 09. Februar 2014

Die Wahl der Bettlektüre kann ja erfahrungsgemäß erheblichen Einfluss darauf nehmen, was man träumt. Befasst man sich beispielsweise vor dem Einschlafen mit Psychokulten und ihren teils recht menschenverachtenden Ansichten und Praktiken, kann es vorkommen, dass man träumt, sich inmitten eines perversen Mysterienspiels eben einer solchen Sekte zu befinden.

In diesem speziellen Fall sah es so aus, dass symbolisch die Ordnung der Familie gefeiert wurde. Die aufmüpfige jugendliche Tochter wurde für eine Nacht aus dem Haus ausgestoßen, um sie wieder empfänglich für die Autorität der Eltern und die Tugend des Gehorsams zu machen. Als der Morgen kam, öffneten die Eltern die Tür, und das Mädchen lief dankbar auf seine Mutter zu und umarmte sie. Das sektengläubige Publikum applaudierte ehrfürchtig, aufs Neue überzeugt von der Wirksamkeit drastischer Erziehungsmaßnahmen, und die drei Schauspieler verbeugten sich.

Da ich selbst etwas andere Beobachtungen bezüglich solcher drakonischer Mittel gemacht habe, fiel mein Enthusiasmus erheblich geringer aus. De facto war ich sogar so empört von der Idiotie dieser Darbietung, dass ich dringend Bestätigung brauchte. Folglich ging ich auf Amazon, um mir die Rezensionen zu meinem eigenen Traum durchzulesen.

Zu meiner Bestürzung herrschte auch dort Begeisterung vor. Der völlige Mangel an 1-Sterne-Verrissen demoralisierte mich so sehr, dass ich es vorzog, aufzuwachen und mich mit der Frage auseinanderzusetzen, was ein anständiger Kulturpessimist wohl aus dem Umstand machen würde, dass mich die Like/Unlike-Mentalität jetzt schon im Traum verfolgt. Und dabei bin ich noch nicht mal auf Facebook.

Fazit: Wenn ich könnte, würde ich diesem Traum gar keinen Stern geben!

Update von der Stimmungsfront – Mittwoch, 05. Februar 2014

Die Winterdepressionen lassen immer noch nicht nach, auch wenn sich anstelle von Schnee nur Geschirr stapelt. Gummibärchen sind mein neues Hauptnahrungsmittel, Februar ist eine beschissene Prüfungszeit und der Nervus maxillaris hat definitiv zu viele Äste.

In meinem Kühlschrank gammeln die Reste von zwei Päckchen Suppengrün vor sich hin, meine Erkältung hat sich nach einer heftigen ödipalen Phase in die Latenzzeit zurückgezogen und ich habe mich schon seit längerem nicht mehr getraut, in die Schachtel mit den übrigen Weihnachtsplätzchen zu schauen. Der Christbaum ist derweil in eine neue Phase der Versteinerung übergegangen.

Man könnte meinen, dass man mit 26 sein Leben einigermaßen im Griff hat, aber das ist ein Irrtum.

 

Unbeliebt and unbeliebable – Freitag, 24. Januar 2014

Ein lustiges Phänomen, das ich gerade heute auf tumblr wieder beobachten durfte, ist das der opportunen moralischen Entrüstung. Es tritt vor allem dann auf, wenn jemand aus welchem Grund auch immer eine andere Person nicht leiden kann und sich deswegen auf einmal zum Anwalt für gute Sachen oder spezielle Bevölkerungsgruppen aufschwingt, für die er gestern noch keinerlei Bewusstsein hatte.

Aus irgendeinem Grund hasst meine gesamte Timeline Justin Bieber. Ich weiß nicht, warum, weil sie mir täglich von so viel Ungerechtigkeit, Sexismus, politischer Unvernunft und offen oder subtil rassistischen, klassistischen, abilistischen oder sonstwie outrage-triggernden Bemerkungen irgendwelcher Promis erzählt, dass ich längst abgeschaltet habe. Mein Hirn ist zu voll mit anderen Dingen, als dass ich mir noch merken könnte, wo in der Achse der politischen Inkorrektheit nun ausgerechnet Justin Bieber sein Unwesen treibt. Fest steht: Der Grund, warum meine Timeline ihn hasst, ist nun mit Sicherheit nicht, dass er wegen Trunkenheit am Steuer festgenommen wurde. Und hier sehen wir auch schon Verlogenheit Nummer 1 am Werk: Selbstverständlich ist sein Fehlverhalten für seine Feinde kein Anlass zu Outrage, sondern zu Schadenfreude. Aber wir sind ja alle viel zu gute Menschen, um das zuzugeben.

Verlogenheit Nummer 2 ist allerdings noch erheblich härter. Einige Bieber-Fangirls (tut mir leid, immer wenn ich Belieber schreibe, begeht irgendwo in meinem Sprachzentrum eine Zellgruppe Massenselbstmord) hielten es wohl für angebracht, eine #freebieber Kampagne zu starten. Kommentar meiner Timeline dazu: Das sei eine Beleidigung für jeden, der einen Angehörigen an einen betrunkenen Autofahrer verloren habe!!

Ich weiß, ich weiß! Wie kann ich nur! Wie kann ich da nicht vor Betroffenheit erstarren und dann ganz schnell auf „reblog“ klicken? Doch nicht etwa, weil mir die Empörung unecht vorkommt, die Begründung vorgeschoben? Wie kann ich es wagen!! Ich habe doch keine Ahnung, was im Leben anderer gerade so vorgeht, ich muss das doch ernst nehmen!! Vielleicht hat das ja jemand geschrieben, der selbst betroffen ist?!

Nö. Mit 99,9-prozentiger Wahrscheinlichkeit nicht. Medienkompetenz heißt zuallererst, nicht alles ernst zu nehmen, was irgendwer im Internet sagt. Die allgemeine Kultur des Beleidigtseins geht mittlerweile einfach zu weit. Wenn ein intelligenter Teenager sich zu schade dafür ist, zuzugeben, dass er Justin Bieber aus Snobismus scheiße findet und deswegen seinen Fangirls aus ihrem dämlichen Verhalten einen moralischen Strick drehen will, dann ist das nicht mein Problem. Ich war auch mal so, und ich musste mich auch irgendwann der Erkenntnis stellen, dass sogar ein Mensch, der nicht nur von zwölf bis Mittag denkt, bisweilen oberflächliche Motive für seine Vorlieben und Abneigungen hat, so sehr das seinen Ansprüchen an sich selbst auch widersprechen mag. Da müssen die jungen Damen jetzt durch.