Theorie des Tages

Kategorie: Gesellschaft

Hemmungslos in die Schlacht – Montag, 08. September 2014

Manchmal, wenn ich mich in der U-Bahn laut mit der Mitbegründerin meines Blogbüros unterhalte, genau merke, dass der Rest des Waggons zuhört und sich seinen Teil dazu denkt, verurteile ich mich für meine Neigung, ständig den Entertainer zu spielen. Mir zum Trost möchte ich hier eine Liste von Menschen erstellen, die weniger Hemmungen haben als ich und damit andere in wirklich unangenehme Situationen bringen:

  • Aufdringliche Nachbarn, die, wenn ihr Blick auf die Hugendubeltüte in deiner Hand fällt, zu erfahren verlangen, welches Buch du dir gekauft hast
  • Menschen in der Disco, die einem erklären, man solle doch mal lächeln
  • Dieselben aufdringlichen Nachbarn, die meinen, sich genau hinter einen stellen zu müssen, wenn man in der Waschküche seine Unterwäsche aus der Maschine holt
  • Ältliche Frauen mit einem Einkaufswagen voller Naturkind-Produkte, die einem hämisch erklären, wenn man Cola trinkt, würde man schön fett
  • Aufdringliche männliche Nachbarn um die fünfundsechzig, die meinen, bloß, weil man sie nicht grob abweist, wolle man mit ihnen eine ausgedehnte Unterhaltung führen

So betrachtet sollte ich also lieber noch ein paar Hemmungen abbauen. Aus Gründen der Selbstverteidigung.

Glaube, Liebe, Hoffnung – Freitag, 05. September 2014

In meiner Siedlung lebt ein Sprayer. Ich mache mir manchmal Gedanken darüber, was das wohl für ein Mensch sein mag, denn irgendwie hat er etwas Trauriges an sich.

Lasst uns die Revolte starten! sprüht er regelmäßig an diverse Hauswände, das „Lasset uns beten!“ der Linksextremisten. Immer, wenn ich diesen Satz lese, frage ich mich, welche Hoffnungen oder Erwartungen der Urheber wohl mit seinem Handeln verknüpft. Ob er in den Tagen und Wochen nach seinen Sprühaktionen gespannt darauf wartet, dass etwas passiert. Zum Beispiel, dass Menschen, die an den Graffiti vorbeikommen, stehenbleiben und ein Gesicht machen, als wären sie plötzlich aus einem Traum aufgewacht. Oder dass die Fensterscheiben der mittlerweile geschlossenen Bankfiliale eingeworfen werden, um die verbliebenen Bürostühle unter den Armen zu verteilen. Vielleicht finden sich die Bewohner der Siedlung auch zu einer Spontandemo gegen das kapitalistische Schweinesystem zusammen, wer weiß. Einen Mangel an Fantasie kann man unserem liebenswerten Fanatiker jedenfalls nicht vorwerfen. 

Das Steakhouse-Sterben – Sonntag, 31. August 2014

Langsam geraten meine Traditionen in Gefahr. Jedes Jahr an Karfreitag und auch bei den gelegentlichen Besuchen meiner Mutter gehe ich Steak essen. Und jetzt? Jetzt macht ein Steakhouse nach dem anderen zu. Früher gab es in der Innenstadt noch zwei, mittlerweile muss ich in die Peripherie fahren. Wie aber kommt das? Wie kommt es, dass ausgerechnet die zentral gelegenen zuerst dichtmachen?

Hypothese 1: Die in den Randbezirken haben weniger Konkurrenz und halten sich deshalb länger.

Hypothese 2: In den Randbezirken wohnt die Unterschicht. Die Unterschicht ernährt sich ungesünder. Deshalb halten sich Steakhäuser dort länger.

Hypothese 3: Die Steakhouse-Kette wird von einer Gang militanter Regenwaldvegetarier terrorisiert und zu den Filialen, die weit draußen liegen, trauen sie sich nicht. Schließlich regieren da ja die echten Gangster. 

 

 

Bigotterie – Samstag, 30. August 2014

Schlimmer, als verurteilt zu werden, ist nur noch, explizit nicht verurteilt zu werden.

Für den Blutdruck – Donnerstag, 14. August 2014

Es kommt der Tag, an dem man sich von der Vorstellung löst, man könne und müsse von absolut jedem Menschen etwas lernen. Meistens ist das der Tag, an dem man das erste Mal online geht. Die Ansichten mancher Leute sind mit strafrechtlich nicht bedenklichen Worten eigentlich nicht mehr zu beschreiben.

Leichen im Keller – Samstag, 02. August 2014

Ich habe ja Albträume der unterschiedlichsten Art; in Sachen Fußballalbträume mache ich inzwischen immerhin Fortschritte. Anstatt davon, was Ende letzter Saison passiert ist, träume ich mittlerweile davon, was diese Saison alles schiefgehen könnte. Damit aber nicht genug, hatte ich letzte Nacht auch noch einen Albtraum anderer Sorte:

Es war ein früher Morgen, ich saß mit ein paar Freunden, die ich gar nicht habe, in der U-Bahn, und plötzlich musste ich wieder daran denken, dass wir vor einem Jahr im Suff einen ziemlichen Scheiß gemacht hatten: Wir hatten ein paar Leichen aus einer Leichenhalle geklaut und in der Landschaft verteilt, damit Gott-weiß-wer sie finden konnte. Tja, offenbar hatten wir sie recht gut versteckt, denn sie waren jetzt erst gefunden worden. Jetzt, als ich diesen Witz schon gar nicht mehr so lustig fand.

Leider verband uns eine ziemlich eindeutige Spur mit der Leichenhalle, so dass durchaus zu fürchten war, dass man uns auf die Schliche kommen würde. Den ganzen Traum über quälte ich mich also mit der Frage, ob das für mich schon das berufliche Aus bedeuten würde, oder ob man mir es gerade noch einmal durchgehen lässt…

Es ist ein sehr typischer Albtraum für mich. Ich weiß nicht, was für Leichen ich so im Keller meines Unbewussten verberge, aber sie müssen ziemlich massiv sein. Ich habe ja so eine Idee: Wahrscheinlich sind das meine ganzen Blog- und Forenleichen, und das unbestimmt-drückende Gefühl, dass jeder Mensch, der jemals im Internet etwas anderes außer das Wetter abzurufen getan hat, seine bürgerliche Existenz eigentlich nur noch von geborgter Zeit lebt. Die allumfassende Überwachung ist im Grunde nichts als eine Real-Werdung eines ultimativen Über-Ichs, das sämtliche barbarische Strafen, die früher bloße Fantasmen waren, jetzt tatsächlich verhängen kann – allen voran die öffentliche Bloßstellung und die Vernichtung der gesellschaftlichen Existenz. Warum wir uns trotzdem weiter ausliefern? Ich weiß es nicht. Ich würde gerne glauben, dass es Trotz ist, vielleicht ist es aber auch einfach Sucht.

Prädikat: Zu meiden! – Sonntag, 20. Juli 2014

Liste der Dinge, an denen man todlangweilige Veranstaltungen erkennt:

  • Es läuft dröhnend laute Pop- und Dancemusik, aber jedes Lied wird nach dreißig Sekunden unterbrochen (da wollte wohl jemand keine GEMA-Gebühren zahlen).
  • Irgendein Kerl plärrt permanent durch ein Megaphon, um allen klarzumachen, dass gerade etwas unheimlich Relevantes passiert (wäre es wirklich relevant, würde das den Leuten schon auffallen).
  • Es findet an einem heißen Sonntagnachmittag in irgendeiner verschuldeten Parkanlage statt (die müssen jeden Mist mitnehmen, um sich über Wasser zu halten).
  • Die Veranstaltung hat irgendeinen wenig aussagekräftigen Namen aus englischen Wörtern, die vage cool klingen (ein echtes Konzept und somit auch interessante Inhalte sind also nicht vorhanden).
  • Von etwaigen Zuschauern ist nichts zu hören.

Blöd, dass das immer dreihundert Meter Luftlinie von meinem Zimmerfenster entfernt stattfindet.

An unsere lieben Fußballhasser – Mittwoch, 09. Juli 2014

Bei jedem wichtigen Fußballspiel bin ich versucht, meine halbe Twitter-Timeline zu entfolgen. Nein, liebe Fußballhasser! Nicht, weil alle über Fußball reden! Weil ihr über Fußball redet!

Natürlich redet ihr nicht darüber, ob Deutschland Weltmeister wird oder wie gut Argentinien ohne Messi wäre. Ihr redet darüber, dass Krieg ist. Dass Gesetze verabschiedet werden. Spionage bekannt wird. Und dass das alles viel, viel wichtiger ist als Fußball. Und wisst ihr was? Ihr habt recht! Und deshalb überrascht es mich, wie viel Zeit und Energie ihr aufzuwenden bereit seid, um euch darüber aufzuregen, dass zur Zeit eine Fußballweltmeisterschaft stattfindet.

Wenn ich euch richtig verstanden habe, dann findet ihr, dass der fußballverrückte Teil der Menschheit seine Aufmerksamkeit auf die falschen Dinge richtet. Das Merkwürdige ist aber doch, dass ihr, die bekennenden Fußballhasser, die ihr euch ausschließlich mit Krieg, Frieden und Netzpolitik beschäftigt, immer ganz genau wisst, wann ein Spiel stattfindet und welche Hashtags ihr blocken müsst, um ja nichts davon mitzubekommen – und euch dann noch die Zeit nehmt, das dem Rest eurer Timeline kundzutun. Manchmal denke ich, die Spiele würden euch vielleicht weniger beschäftigen, wenn ihr sie einfach anschaut. Aber das ist nur ein Vorschlag. Wir können auch den anderen Weg gehen, und uns einmal anschauen, warum ihr euch eigentlich so merkwürdig verhaltet.

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Eure eigene Narration ist so selbstdienlich wie simpel. Ihr seid die sensibleren, bewussteren Menschen, und deshalb versetzt es euch so in Rage, dass eure Umgebung sich mit Trivialitäten wie Fußball befasst, während anderswo Bomben fallen oder kriminelle Gesetze verabschiedet werden. Ich hingegen erlaube mir, diese Narration einmal umzudrehen. Ihr hasst Fußball nicht, weil ihr sensibler seid. Ihr seid sensibler, weil ihr Fußball hasst.

Ihr als Fußballhasser könnt es nicht wissen, aber ihr verhaltet euch so wie Fans, deren Team gerade eine brutale Niederlage hat einstecken müssen. Ihr befindet euch in einer Art Trauerstimmung, und die macht euch empfindlich und reizbar. Fröhlichkeit interpretiert ihr als Aggression; der Gegensatz von Freude und Leid erscheint euch wie ein unerträgliches Rätsel, das gelöst werden muss, wenn das Leben noch einen Sinn machen soll. Ihr seid ein kleines bisschen die Mutter, die ein Kind verloren hat und nicht verstehen kann, wie andere Menschen lachen können.

Nur, dass ihr kein Kind verloren habt. Euer Kind heißt Gaza, Syrien, NSA und Deutscher Bundestag, aber es könnte auch beliebige andere Namen haben, solange es sich als Instrument eurer seelischen Selbstüberhöhung anbietet. Das Ironische daran ist natürlich Folgendes: Ihr glaubt zwar, durch eure zwanghafte Gegenüberstellung von Fußball und Weltpolitik grenzt ihr euch vom WM-Wahn ab – in Wirklichkeit ist sie aber eure Art, daran teilzuhaben. Die Art und Weise, wie ihr seufzt Wenn man nur die Tore gegen den Frieden eintauschen könnte…. (Tore? Woher wisst ihr Fußballhasser eigentlich schon wieder so genau, wie viele gefallen sind?) ist nicht weniger sentimental als die Gefühle, die der Fan seiner Mannschaft entgegenbringt, und einen größeren Einfluss auf die Situation im Nahen Osten hat sie auch nicht. Genau in dieser maskierten Teilnahme verrät sich nun aber der Grund für euren Hass: Ihr fühlt euch ausgeschlossen.

Ohne, dass es euch klar ist, seid ihr in einen ausgesprochen trivialen Kampf verwickelt, der durchaus mit Fußballrivalitäten zu vergleichen ist. Eure Gegner sind diejenigen, die sich vom WM-Fieber mitreißen lassen. Eure Hoffnung ist, dass die Geschichte euren Standpunkt, nämlich das Desinteresse an Fußball, belohnt, etwa durch eine frühe Niederlage der deutschen Mannschaft. Passiert aber das Gegenteil, dann leidet ihr. Und zwar leidet ihr weniger unter den Hupen, den Tröten und den Schlagzeilen, als unter der Tatsache, dass das ganze Land über etwas aus dem Häuschen ist, was ihr nicht nachempfinden könnt. Ihr spürt, dass euch etwas entgeht, etwas vorenthalten bleibt, und das gibt euch das Gefühl, auf der Verliererseite zu stehen. Und dann setzt das Trauerverhalten ein. Ihr werdet übersensibel gegen Fröhlichkeit, identifiziert euch mit dem Elend der Welt und schießt giftige, moralinsaure Pfeile in Richtung einer ausgelassenen Masse ab, die mit ihrer Ausgelassenheit im Grunde niemandem etwas Böses will – und euch am wenigsten, weil sie euch gar nicht zur Kenntnis nimmt. Ihr stellt eine mystische Verbindung zwischen der Fröhlichkeit der Massen und dem Elend der Welt her – nicht, weil die WM schuld am Krieg wäre, sondern weil sie schuld an eurem persönlichen Elend ist. Das bleibt also letztlich übrig von eurer scheinbar unantastbaren moralischen Überlegenheit – persönliche Gekränktheit darüber, dass die Welt von etwas begeistert ist, was ihr nicht versteht.

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Ihr glaubt mir nicht? Ihr haltet immer noch euch für die besseren Menschen und euren Fußballhass für die Rettung der Menschheit? Na gut, dann gehen wir es nochmal der Reihe nach durch.

Tweet: „Während #BRAGER hat der Deutsche Bundestag übrigens folgende Gesetze verabschiedet: ….“

Aha. Und was, glaubt ihr, wäre passiert, wenn nicht nebenher Fußball gelaufen wäre? Hätten dann erzürnte Bürger das Parlament gestürmt und die Verabschiedung des betreffenden Gesetzes verhindert? Wenn ihr wirklich glaubt, es bräuchte Fußball, um die Deutschen von etwaigen revolutionären Vorhaben abzuhalten, dann lebt ihr im Wolkenkuckucksheim.

Analoges gilt übrigens für die Weltpolitik. Wenn zufällig gerade Fußball läuft, während ein Krieg ausbricht, dann lauten die Schlagzeilen: Krieg im Nahen Osten und die Welt schaut weg! Läuft kein Fußball, dann lauten die Schlagzeilen: Krieg im Nahen Osten und die Welt schaut zu! Der Unterschied? Eine Frage der Wortwahl.

Für viele Menschen sind Fußballbegeisterung und politisches Bewusstsein kein Widerspruch. Fußball ist der beliebste Sport der Welt – das setzt voraus, dass sich die Gesamtheit der Fußballfans nicht nur aus einer Art Mensch zusammensetzt. Folglich werden sich unter selbigen auch politisch Engagierte (und zwar jeder Couleur) finden. Vielleicht sind einige von ihnen engagierter als ihr. Möglich sogar, dass manche intelligenter sind. Ihr Fußballhasser seid keine geistig-seelische Elite. Ihr mögt einfach bloß etwas nicht, was ein Großteil der Menschheit mag. Und damit könnt ihr offenbar nicht umgehen.

 

 

 

 

 

 

 

Transatlantische Duelle – Donnerstag, 26. Juni 2014

Meine Damen und Herren,

wenn man der Prematch-Raserei einiger Amerikaner trauen darf, dann beginnt heute der Endkampf gegen die bösen Deutschen (angeführt von Jürgen Klinsmann). Aber wer kann es ihnen verübeln, wenn man bedenkt, dass die bisherigen Pep Talks sich auf inspirierende Slogans wie I believe that we will win beschränkten?

In Deutschland herrscht unterdessen immer noch gleichmütige Ruhe. Sei es Selbstsicherheit, sei es Überdruss, bisher will niemand zu viel Emotionen in diese WM investieren. Und wer kann es uns verübeln, wenn man bedenkt, wie die europäischen Topteams bisher abgeschnitten haben?

Was erwartet uns heute also? Beamtenmikado? Das doppelte Chelsea? Oder werden Jogi und Klinsmann darauf verzichten, das Stadion in einen Busbahnhof zu verwandeln und tatsächlich Fußball spielen?

Man wird sehen. Aber ich muss mir doch die Anmerkung gestatten, dass es ein erheblich günstigerer Zeitpunkt für eine deutsch-amerikanische Freundschaft als für aufgewärmte Weltkriegsgefühle wäre. Ein 0-0 würde ja schließlich reichen.

 

Deutschland im Sommerschlaf – Montag, 16. Juni 2014

Diese WM ist merkwürdig.

Wahrscheinlich ist jede WM merkwürdig. Diese ist es aber nicht nur fußball-, sondern auch stimmungstechnisch. Wenn ich durch meine Stadt gehe, dann denke ich manchmal, es hat eine Zombieapokalypse stattgefunden. Denn aus irgendeinem Grund hängen fast nirgendwo Flaggen. Auf den Straßen hupen keine Autokolonnen. Und beim Public Viewing tut der Lautsprecher in den Ohren weh, weil er auf 5000 Leute mehr eingestellt ist.

Haben die Antideutschen doch noch gewonnen? Alle Flaggen geklaut, alle Hupen aufgekauft und die Fans in die Flucht geschlagen? Oder sind alle zu distinguierten Weinkennern geworden, die über Fußball die Nase rümpfen?

Nicht ganz. Ich denke, das Bild von der Massenflucht ist nicht ganz unangemessen, nur nennt man es freilich nicht Zombieapokalypse. Man nennt es wohl Pfingstferien.